Bericht aus Ungarn: Scheinreformen werden das System Orban nicht ändern
Ungarn ist weit davon entfernt, auf den Pfad der Demokratie zurückzukehren. Die Maßnahmen der EU-Kommission zum Schutz des Rechtsstaats in Ungarn greifen zu kurz. Die Reformversprechen der Orban-Regierung sind in erster Linie Lippenbekenntnisse, die dazu dienen, den Fluss von EU-Geldern zu sichern. Das sind die Haupterkenntnisse meiner Reise nach Ungarn in dieser Woche. Ich habe mich mit Oppositionspolitiker*innen, Rechtsexpert*innen, Vertreter*innen der Zivilgesellschaft und Aktivist*innen ausgetauscht. Die Einschätzungen sind düster. Wenn auch im kommenden Jahr EU-Gelder in voller Höhe an die Orban-Regierung ausgezahlt werden, wird sich am System Orban – der Korruption und dem Demokratie-Abbau – nichts ändern.
Scheinreformen – Wie die EU-Kommission sich blenden lässt
Auf Drängen des Europaparlaments hin, hat die EU-Kommission im September 2022 verkündet, dass bis zu 7,5 Milliarden Euro an EU-Zahlungen an Ungarn zurückgehalten werden, sofern es keine Reformen von der Regierung in Budapest gibt. Gleichzeitig hat man sich auf ein Reformpaket von 17 Maßnahmen geeinigt, das bis zum 19.11. erfüllt sein müsste, um Finanzsanktionen doch noch zu verhindern. Das Problem: Die Maßnahmen berühren in erster Linie Vergabeverfahren für öffentliche Gelder. Schritte, die die Durchsetzung des Rechtsstaats betreffen, sind darin nicht enthalten. Meine Gesprächspartner*innen in Ungarn berichten zudem, dass die ungarische Regierung die Maßnahmen in erster Linie auf dem Papier erfüllt, ohne substanziell etwas am Status Quo zu ändern. So wurde beispielsweise die Vorgabe für die Errichtung einer Antikorruptionsbehörde in kürzester Zeit durch das Parlament geboxt, ohne Opposition, Zivilgesellschaft oder Expert*innen einzubeziehen. Die Anforderung, dass sich mehr als eine Firma auf öffentliche Ausschreibung bewerben muss, kann durch Scheinangebote einfach umgangen werden. Eine wirklich wirksame Maßnahme, wie der Beitritt Ungarns zur Europäischen Staatsanwaltschaft, wird von der Orban-Regierung bewusst vermieden und von der EU-Kommission auch nicht eingefordert.
Akzeptieren wir die Tatsache, dass jetzt ein EU-Mitgliedsland keine Demokratie mehr ist?
Die EU-Kommission weiß, dass die aktuellen Maßnahmen der Orban-Regierung nicht zu einer substanziellen Verbesserung der Situation in Ungarn beitragen werden. Und doch zeichnet sich ab, dass sie Ungarn zum 19.11. ein positives Reform-Zeugnis ausstellen wird. Das könnte entscheidend dazu beitragen, dass Ungarn weiter vollen Zugriff auf EU-Fördermittel hat, ohne dass der Rechtsstaat funktioniert. Die EU-Kommission unter Präsidentin Ursula von der Leyen (CDU) würde damit de facto akzeptieren, dass ein nicht-demokratisches Land Mitglied der EU ist – und trotz der jahrelang dokumentierten, erheblichen Korruption EU Gelder weiter nach Ungarn ausgezahlt werden. Das hat fatale Folgen für die Europäische Demokratie insgesamt. Denn – so beklagen es mehrere Gesprächspartner*innen – Viktor Orban ist im Europäischen Rat aktiv an Europäischen Entscheidungen beteiligt – blockiert immer wieder mit seinem Veto. Nach der Europawahl 2024 könnten nicht-demokratisch ‘gewählte’ Abgeordnete aus Ungarn dem Europäischen Parlament angehören. Es sind Zustände, die wir nicht akzeptieren dürfen.
Lehrer*innen-Proteste: Gefeuert, weil sie für angemessene Bezahlung streikten
Unterdessen geht die Repression in Ungarn unvermindert weiter. Ins Visier der Orban-Regierung sind jetzt ungarische Lehrer*innen geraten. Tausende von ihnen haben im ganzen Land für eine angemessene Bezahlung gestreikt, zehntausende von ihnen sind auf die Straße gegangen. In den Regierungsmedien wurden sie dafür zum Ziel einer Schmierkampagne. Einige wurden einfach gefeuert. Mit einem von ihnen habe ich mich am Dienstag getroffen. Er hat nach 29 Jahren als Lehrer für Mathematik und Chemie seinen Job verloren, weil er vier Tage gestreikt hat. Das Signal der Orban-Regierung ist eindeutig: Wer sich gegen uns stellt, wird fertig gemacht.
Angesichts der aktuellen Bestandsaufnahme aus Ungarn darf es nicht sein, dass Viktor Orban mit seinem autoritären Kurs ohne Konsequenzen davonkommt. Ursula von der Leyen darf sich nicht von den Scheinreformen blenden lassen. Es darf unter den aktuellen Umständen KEINE Überweisungen an die Regierung in Budapest geben. Das Europäische Parlament wird sich in den kommenden Wochen mit aller Kraft dafür einsetzen, dass Europäische Werte und die Europäische Demokratie geschützt werden.
Das Signal der Orban-Regierung ist eindeutig: Wer sich gegen uns stellt, wird fertig gemacht.