Studie: Rechtsstaatsmechanismus hätte vor den Wahlen gegen Polen ausgelöst werden müssen
Die so genannten “Justizreformen” der polnischen PiS-Regierung stellen schwere Rechtsstaatsverstöße dar. Daraus folgen erhebliche Risiken für die finanziellen Interessen der EU. Die EU-Kommission hätte deshalb spätestens ab dem Jahresende 2021 den Rechtsstaatsmechanismus gegen Polen auslösen müssen. Das sind die Haupterkenntnisse eines Rechtsgutachtens der renommierten Jurist*Innen Laurent Pech, Anna Wójcik und Patryk Wachowiec, die gestern im Europäischen Parlament vorgestellt wurde. Das Gutachten wurde von der Grünen/EFA-Fraktion in Auftrag gegeben.
Daniel Freund, Mitglied des Europäischen Parlaments für die Grünen, kommentiert:
“Mit der Wahlniederlage am vergangenen Wochenende hat die polnische PiS-Regierung einen rechtsstaatlichen Scherbenhaufen hinterlassen. Die neue Regierung muss die Unabhängigkeit der Justiz jetzt schnell wiederherstellen, um Zugang zu den eingefrorenen EU-Geldern zu bekommen und ein Auslösen des Rechtsstaatsmechanismus zu verhindern. Es ist absolut fahrlässig, dass die EU-Kommission den Mechanismus gegen Polen nicht schon 2021 ausgelöst hat – trotz eindeutiger Beweislage. Die EU-Kommission wusste, dass die rechtlichen Gründe vorlagen, um den Mechanismus auszulösen. Sie hat sich aber aus politischen Gründen dagegen entschieden. Die Zurückhaltung der EU-Kommission hat die polnische Demokratie in eine Gefahrenlage gebracht. Der Schutz des Rechtsstaats in Europa darf nicht politischen Erwägungen untergeordnet werden. Ursula von der Leyen kann sich nicht darauf verlassen, dass Rechtsstaatsprobleme wie jetzt in Polen durch Wahlen gelöst werden. In einigen Mitgliedstaaten – wie in Ungarn – ist es dafür wahrscheinlich zu spät. Der Rechtsstaatsmechanismus ist das wirksamste Mittel zum Schutz Europäischer Werte. Er muss in Zukunft viel proaktiver eingesetzt werden.”
Die Haupterkenntnisse der Studie im Überblick:
Was sind die schwersten Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit in Polen?
Seit 2015 hat die PiS das Justizsystem und seine Unabhängigkeit systematisch demontiert: Mittlerweile sind alle obersten Gerichte unregelmäßig besetzt, Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden wurden instrumentalisiert, jedes einzelne richterliche Ernennungsverfahren ist inhärent fehlerhaft, und zentrale EU- und EMRK-Bestimmungen wurden für „verfassungswidrig“ erklärt, was dazu führt, dass polnische Behörden Beschlüsse und Urteile des Europäischen Gerichtshofs und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht mehr als verbindlich anerkennen.
Warum stellt dies eine Gefahr für den EU-Haushalt dar?
Die Missachtung der Rechtsstaatlichkeit durch die PiS-Regierung hat drei Institutionen ernsthaft beeinträchtigt, die für die Verwaltung der EU-Mittel und den Schutz der finanziellen Interessen der EU in Polen von entscheidender Bedeutung sind: Sie hat die Funktionsweise des Obersten Rechnungshofs ebenso gefährdet, wie unvoreingenommene Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft, als auch die gerichtliche Überprüfung der Finanzverwaltung des EU-Haushalts. Außerdem verweigert Polen unter der PiS jegliche Zusammenarbeit mit der Europäischen Staatsanwaltschaft und die Kooperation mit der EU-Antibetrugsbehörde OLAF war problematisch.
Wann hätte die Kommission die Konditionalität der Rechtsstaatlichkeit auslösen sollen?
Nachdem die Kommission am 17. November 2021 um zusätzliche Informationen von den polnischen Behörden gebeten hatte, hat sie trotz der anhaltenden Verschlechterung der Rechtsstaatslage keine weiteren Schritte zur Auslösung der Konditionalität unternommen. Wie die Studie zeigt, waren die Argumente für die Aktivierung des Mechanismus bereits zum Zeitpunkt dieses Ersuchens zwingend – und wurden mit jedem weiteren Schritt, den die PiS unternahm, um die Unabhängigkeit der Justiz zu untergraben, noch dringlicher.
Die komplette Studie findet ihr hier (auf Englisch):
https://danielfreund.eu/wp-content/uploads/2023/10/Rule-of-law_V2.1.pdf
Die Zurückhaltung der EU-Kommission hat die polnische Demokratie in eine Gefahrenlage gebracht.