Daniel Freund

19. März 2022 Demokratie

Krieg in der Ukraine zeigt: Europa braucht grundsätzliche Reformen 

EU citizens panel on ‘A stronger economy, social justice and jobs / Education, culture, youth and sport / Digital transformation' shows solidarity with Ukraine on 25 February 2022 in Dublin
Bürger*innen des EU-Panels zum Thema "Eine stärkere Wirtschaft, soziale Gerechtigkeit und Arbeitsplätze / Bildung, Kultur, Jugend und Sport / Digitale Transformation" zeigt Solidarität mit der Ukraine am 25. Februar 2022 in Dublin

Liebe Europäer*innen,

 

die russische Invasion in der Ukraine hat erneut den Reformbedarf der Europäischen Union offenbart. Eine einheitliche und entschiedene diplomatische Antwort auf die Aggression wurde in Abstimmungsrunden verlangsamt und abgeschwächt. Unterschiedliche energiepolitische Positionen der EU-Mitgliedstaaten verhindern zudem eine autonomes europäisches Auftreten gegenüber autokratischen Staaten und beherbergen die Gefahr der Erpressbarkeit.

 

Angesichts der eigenen Verwundbarkeit bekundeten europäische Spitzenpolitiker*innen in den Wochen nach dem russischen Angriff den Wunsch nach einem stärkeren Europa. Diese Forderungen dürfen nicht wieder in den Schubladen verschwinden. Sie müssen unser Auftrag sein, die Europäische Union in den kommenden Monaten zu reformieren, sie widerstandsfähiger und demokratischer zu machen!

 

Mit der Konferenz zur Zukunft Europas gibt es für die nötigen Reformen bereits einen Fahrplan. 800 Bürger*innen, zufällig EU-weit ausgewählt, haben in den vergangenen Monaten im Zuge der Zukunftskonferenz konkrete Reformvorschläge erarbeitet. Obwohl sie vor der Invasion erarbeitet wurden, lesen sie sich wie eine direkte Antwort auf den Krieg in Europas Nachbarschaft: eine EU-Armee, die Ablösung von Öl- und Gasimporten durch Erneuerbare Energien, ein Ende nationaler Vetos.

 

Insgesamt wurden 178 Empfehlungen formuliert, die jetzt im Plenum der Zukunftskonferenz in konkrete Politik und Reformen übersetzt werden. Die Konferenz wird bis zum 9. Mai 2022 ein Ergebnis liefern.

 

Die Highlights aus den 40 Empfehlungen des EU-Bürger*innenpanels “EU in der Welt und Migration”:

  • Eine europäische Armee für die Verteidigung, Hilfe bei Katastrophen und Einsätze im Auftrag der Vereinten Nationen (Empfehlung 20)
  • Unabhängigkeit von Öl- und Gasimporten durch Ersatz mit Erneuerbaren Energien aus Sonne und Wind, durch mehr Züge statt mehr Autos (Empfehlung 2)
  • Für Mehrheitsentscheidungen statt Einstimmigkeit, also die Abschaffung von Vetos (Empfehlung 21)
  • Garantie von Gesundheit und Sicherheit von Migranten durch EU-organisierte Willkommenszentren (Empfehlung 10) und ein verbindliches System zur Verteilung von Asylsuchenden (Empfehlung 33)

 

Highlights aus den 48 Empfehlungen des EU-Bürger*innenpanels „Eine stärkere Wirtschaft, soziale Gerechtigkeit und Beschäftigung/Bildung, Kultur, Jugend und Sport/Digitaler Wandel“:

  • Mindestlöhne überall in Europa in Relation zur Kaufkraft (Empfehlungen 1 und 30)
  • Angleichung von Steuern, die Unterschiede erlaubt aber Steuervermeidung beendet (Empfehlungen 13 und 31)
  • Recht auf bezahlbare Energie (Empfehlung 10), auf Zugang zum Internet (Empfehlung 17), auf soziale Mindeststandards inklusive Mindestrente (Empfehlung 21), Zugang zu Sozialwohnungen bei Bedarf (Empfehlung 25), bessere und harmonisierte Rechte bei Geburt von Kindern (26) sowie für Familien für Ehe und Adoption (27)

 

Die Highlights der 51 Empfehlungen des EU-Bürger*innenpanels „Klimawandel und Umwelt/Gesundheit“

  • Mehr Investitionen in Forschung von und Versorgung mit umweltfreundlicher Energie (Empfehlung 9)
  • Empfänger von EU-Agrarsubventionen sollen klaren Umweltstandards folgen, sie sollten nachhaltige Landwirtschaft fördern (Empfehlung 12), Antibiotika sollten nur eingesetzt werden, wenn absolut notwendig (Empfehlung 17)
  • Gesundheit und Gesundheitswesen soll geteilte Zuständigkeit zwischen der EU und den EU-Mitgliedstaaten werden, dafür der EU-Vertrag geändert werden (Empfehlung 49)

 

Die Highlights aus den 39 Empfehlungen des Bürger*innenpanels “Demokratie, Werte, Rechtsstaat, Sicherheit”:

  • Eine Europäische Verfassung, die Demokratie und Grundrechte schützt und von den Bürger*innen abgestimmt wird.
  • finanzielle Sanktionen bei Rechtsstaatsverletzungen
  • Ein Stimmrecht für EU-Bürger*innen, direkt für Europäische Parteilisten mit Kandidaten aus vielen Mitgliedsländern
  • Europäische öffentliche Investitionen für die Schaffung guter Arbeit und die Verbesserung und Angleichung der Lebensqualität in der ganzen EU. 
  • Großunternehmen sollen ordentlich besteuert, Steueroasen in der EU abgeschafft werden.

 

Der Rat bremst – zur falschen Zeit!

 

In den letzten 7 Wochen der Zukunftskonferenz bis zum 9. Mai geht es jetzt um die Antwort der Politiker*innen auf die Vorschläge der Bürger*innen. Auch Wochen vor dem Ende der Konferenz gibt es aber auch EU-Regierungen, die den Bürger*innen keine Antwort geben wollen. Die Schwedische Regierung lehnt in einem Papier jegliche Antwort der EU-Regierungen ab. Das Papier wird von 10 Ländern unterstützt. Die Bürger*innen im Plenum der EU-Zukunftskonferenz protestieren gegen die Verweigerung im Rat der Mitgliedstaaten. Ein Bürger forderte im Namen vieler anderer: „Wir Bürger wollen vom Rat wissen, welche der Empfehlungen Sie unterstützen. Wir wollen es vor dem 9. Mai wissen.“

 

Wie es jetzt weitergeht

 

Am 21. März verschickt das Konferenz-Sekretariat schriftliche Vorlagen an alle Arbeitsgruppen. Diese Vorlagen machen aus dem Bürger*innen-Empfehlungen Vorschläge für Konferenz-Schlussfolgerungen. Vom 25. bis zum 26 März beraten die Arbeitsgruppen der Konferenz und beschließen die Vorlagen an das Plenum. Das Plenum nimmt diese Berichte dann entgegen. Am 8. und 9. April wird das Plenum die Schlussfolgerungen der Konferenz diskutieren und beschließen. Am 9. Mai findet dann die Abschlusserklärung von Roberta Metsola, Präsidentin des Europaparlaments, Ursula von der Leyen, Präsidentin der EU-Kommission und des dann neugewählten französischen Präsidenten statt.

 

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Papier der Bundesregierung übernimmt die wichtigsten Forderungen der grünen Europafraktion und der EU-Bürger*innenpanels: https://www.auswaertiges-amt.de/blob/2516726/0508a57355d7214e585d1ca03c94872d/220311-non-paper-data.pdf 

  • offen für die Einberufung eines verfassungsgebenden Konvent
  • Einstimmigkeitsregel in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik durch Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit ersetzen
  • EU innen weiterentwickeln, um ihre Handlungsfähigkeit auch mit durch Erweiterung wachsender Zahl an Mitgliedstaaten sicherzustellen
  • Klimaziel des Paris-Abkommens umsetzen über Fit for 55-Paket hinaus, auch durch die Reform der europäischen Landwirtschaft hin zu Nachhaltigkeit
  • Reduktion des Einsatzes von Pestiziden und Düngemitteln
  • Investitionsoffensive für eine klimagerechte und digitale Infrastruktur Europas
  • europäische Medienplattform einrichten
  • EU-Rechtsformen für Vereine und Stiftungen schaffen
  • Europäisches Parlament im legislativen Prozess stärken beim Initiativrecht
  • einheitliches europäisches Wahlrecht mit teils transnationalen Listen und einem verbindlichen Spitzenkandidatensystem
  • Transparenz der Verfahren und Entscheidungsfindung in den EU-Institutionen erhöhen
  • jährlichen Rechtsstaatsbericht der EU-Kommission durch länderspezifische Empfehlungen und unabhängige Expertise stärken
  • Anwendung der EU-Grundrechtecharta auch auf nationales Handeln
  • Aufwärtskonvergenz EU-weit zu befördern, die Europäische Säule Sozialer Rechte umzusetzen und soziale Ungleichheiten zu beseitigen

 

Finaler Bericht aus Konferenz-Online-Plattform: Bürger wollen nationale Vetos abschaffen

 

Auf der online-Plattform https://futureu.europa.eu wurden bis 20. Februar zum letzten Mal Unterstützungen für inzwischen 16.916 Ideen gesammelt. 6 der Top 10, die dabei herauskommen, fordern die Abschaffung von nationalen Vetos bei Entscheidungen unter den EU-Mitgliedstaaten im Rat, konkret die Ideen auf den Plätzen 1, 4, 5, 8, 9 und 10.

 

1) Gemeinsam sind wir stärker: Eine demokratische Europäische Föderation – 935 Stimmen

https://futureu.europa.eu/processes/Democracy/f/6/proposals/178

…fordert EU-Gesetze mit Mehrheit im Parlament und in der Vertretung der Mitgliedstaaten zu beschließen, Verfassungsänderungen mit qualifizierter Mehrheit

 

2) Für einen Mechanismus der Klarheit über das Recht auf Selbstbestimmung – 905 Stimmen

https://futureu.europa.eu/processes/Democracy/f/6/proposals/248887

 

3) 10 Millionen Stimmen: Katalanisch zur EU-Amtssprache machen – 823 Stimmen

https://futureu.europa.eu/processes/ValuesRights/f/12/proposals/254369

 

4) Schaffen Sie das Veto des Rates ab! (Petition an die Abgeordneten der Konferenz) – 757 Stimmen

https://futureu.europa.eu/processes/Democracy/f/6/proposals/218165

 

5) Die EU braucht ein besseres Sprachenlernen – 718 Stimmen

https://futureu.europa.eu/processes/Education/f/36/proposals/23893

 

6) Ein Reformplan für eine bürgernahe europäische Demokratie – 611 Stimmen

https://futureu.europa.eu/processes/Democracy/f/6/proposals/56299

…enthält: “4. Sicherstellung der Handlungsfähigkeit der EU durch Mehrheitsentscheidungen in allen Fragen im Rat”

 

7) Wissenschaftsintensive Technologien für gesunde Langlebigkeit: Entwicklung und Zugang – 596 Stimmen

https://futureu.europa.eu/processes/Health/f/3/proposals/826

 

8) Es kann keine echte europäische Demokratie ohne eine autonome EU-Finanzbehörde geben. – 585 Stimmen

https://futureu.europa.eu/processes/Democracy/f/6/proposals/8515 

…fordert dass der EU-Haushalt und Steuern von Parlament und Rat mit Mehrheit beschlossen werden

 

9) Damit der EU-Haushalt für die Europäer funktioniert: eine Fiskalunion – 580 Stimmen

https://futureu.europa.eu/processes/Economy/f/10/proposals/188

…fordert “Die Einführung neuer EU-Steuern sollte auf der Grundlage einer Mitentscheidung des Europäischen Parlaments und des Rates erfolgen, ohne dass ein einzelner Mitgliedstaat das Recht hat, sie zu blockieren.”

 

10) Keine doppelten Standards bei der Verteidigung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit – 573 Stimmen

https://futureu.europa.eu/processes/ValuesRights/f/12/proposals/250174

…fordert “Die Einstimmigkeitsregel für Artikel 7 EUV sollte in eine Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit umgewandelt werden, um zu vermeiden, dass dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet werden (d.h. zwei Mitgliedstaaten mit schwerwiegenden Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit oder die Menschenrechte schließen sich zusammen, um in ihrem Namen ein Veto gegen Artikel 7 einzulegen).” wobei sich das Beispiel auf Ungarn und Polen bezieht.