State of the Union - Von der Leyens gebrochene Versprechen können fatalen Folgen für Europas Demokratie haben
Am Mittwoch (14.09.) wird EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) in Straßburg die Prioritäten ihrer politischen Arbeit skizzieren. Die nunmehr dritte Rede zur Lage der Europäischen Union (State of the Union) wird voraussichtlich ihre letzte große Rede vor dem Europäischen Parlament sein, bevor sie sich offiziell um eine mögliche Wiederwahl im Jahr 2024 bewirbt. Europäische Werte, Europas Demokratie – und vor allem der Schutz des Europäischen Rechtsstaats standen in den vergangenen Jahren mit im Zentrum von von der Leyens Reden.
Mit ihrer rhetorischen Klarheit bei der Verteidigung Europäischer Grundwerte, hat sie im Parlament viele Sympathiepunkte gewonnen. Doch ihre Versprechen – über die Jahre nahezu deckungsgleich formuliert – halten einer kritischen Überprüfung kaum stand. Sowohl in Ungarn, als auch in Polen hat sich die Lage signifikant verschlechtert. Die EU-Kommission hat die ihr zur Verfügung stehenden Werkzeuge zu spät und unzureichend eingesetzt. Ursula von der Leyen hat viel versprochen. Aber sie hat wenig geliefert. Ein Überblick:
Die Versprechen: “Null Toleranz für Rechtstaatsbrecher”?
“That is why there can be no compromise when it comes to respecting the rule of law. There never will be. (…) The Commission will always be an independent guardian of the Treaties.”
– Kandidat*innenrede von Ursula von der Leyen, 16.07.2019
“The rule of law is our foundation and can never be compromised. We must ensure that it is respected and upheld everywhere, with every country treated equally.”
– Antrittsrede von Ursula von der Leyen, 27.11.2019
“The Commission attaches the highest importance to the rule of law.”
– State of the Union Rede von Ursula von der Leyen, 16.09.2020
“Unsere Werte sind durch unsere Rechtsordnung garantiert und die Urteile des Europäischen Gerichtshofs sichern sie. Diese Urteile sind bindend. Und wir achten darauf, dass sie eingehalten werden. Und zwar in jedem Mitgliedstaat unserer Union.”
– State of the Union Rede von Ursula von der Leyen, 15.09.2021
Wurden diese Versprechen gehalten? Ein Blick auf die Lage in Polen und in Ungarn:
Polen: Abschied aus der EU Rechtsordnung ohne spürbare Konsequenzen
Nachdem die polnische Regierung über Jahre den Rechtsstaat im Land systematisch untergraben hat, verabschiedete sich Polen im Oktober 2021 aus der europäischen Rechtsordnung. Das politisch besetzte, sogenannte „Verfassungtribunal“ urteilte, dass polnisches Recht über EU Recht stehe und stellte damit einen Grundpfeiler der europäischen Integration in Frage. Von der Leyen’s Kommission reagierte und leitete im Dezember ein Vertragsverletzungsverfahren ein. Das Verfahren dauert an, das polnische Urteil ist noch immer in Kraft.
In der Zwischenzeit entschied die Kommission, dass die Bedingungen zur Auslösung des Rechtsstaatsmechanismus in Polen nicht erfüllt seien. Obwohl die unabhängige Justiz im Land faktisch ausgehebelt ist, würden die Rechtsstaatsmängel keine Gefahr für den Schutz des EU Haushalts darstellen und damit kein Sanktionsverfahren rechtfertigen. Zwei Monate später, im Juni diesen Jahres, genehmigte die Kommission den Wiederaufbauplan der Regierung und machte damit den Weg für Coronahilfsgelder in Höhe 34,5 Milliarden Euro frei, wenn entsprechende Meilensteine erfüllt sind. Gelder sind bislang aber noch keine geflossen, weil Polen sich weigert, hier die nötigen Reformen umzusetzen. Es scheint, dass die EU-Kommission hier zumindest weiter Druck macht.
Die polnischen Strafzahlungen von 1 Million Euro/Tag, die die Kommission wegen der Nichtumsetzung eines EuGH Urteils beantragt hatte, summieren sich mittlerweile auf mehr als 300 Millionen Euro. Verglichen mit den Zahlungen aus dem EU Haushalt sind das jedoch Kleinstbeträge. Um wirklich für ein Umdenken bei der polnischen Regierung zu sorgen, sind diese Beträge zu gering.
Ungarn: Wiederwahl von Orban mitfinanziert durch die EU
Viktor Orban hat in den vergangenen zwölf Jahren systematisch die ungarische Demokratie untergraben. Seine Macht gründet er auf Vetternwirtschaft, Korruption und Missbrauch öffentlicher Gelder, darunter die Milliardenzahlungen aus Brüssel. Im April 2022 sicherte sich seine Regierung erneut eine Zweidrittelmehrheit im Parlament, unter anderem dank der EU-Zahlungen, die aus der Staatskasse für den Wahlkampf missbraucht wurden. Zum Zeitpunkt der Wahl hatte von der Leyen bereits mehr als ein Jahr lang die Chance gehabt, den Rechtsstaatsmechanismus gegen Ungarn auszulösen und zu verhindern, dass EU-Gelder Orbans Wiederwahl mitfinanzieren. Das Sanktionsverfahren wurde letztendlich erst drei Wochen nach der Wahl ausgelöst. Zwar macht das Verfahren Fortschritte, es gibt allerdings Hinweise, dass die EU-Kommission plant, lediglich das Einfrieren eines Bruchteils der EU-Gelder an die Orban-Regierung zu empfehlen.
Darüber hinaus winken weiterhin 7,2 Milliarden Euro aus dem Wiederaufbaufonds. Die Verhandlungen mit der Kommission dauern zwar noch an. Von Kommission und ungarischer Regierung hört man aber zuletzt positive Signale, obwohl die bisher von Ungarn angekündigten Reformen Scheinmaßnahmen gleichen, die das korrupte System Orbans nicht abschaffen würden. Sollte sich die Kommission mit diesen Scheinmaßnahmen zufrieden geben und die Coronamilliarden freigeben, ist zu befürchten, dass auch das Rechtsstaatsverfahren in letzter Minute abgebrochen wird und letztendlich keinerlei finanzielle Strafen drohen.
Zweite Amtszeit dank laxem Kurs beim Rechtsstaat?
Der Kurs der von-der-Leyen-Kommission gegenüber den Rechtsstaats-Sorgenkindern ist geprägt von Zurückhaltung und Zaudern. Die mehrfach versprochene Null-Toleranz-Politik hat sich nie realisiert. Auch deshalb konnte der Rechtsstaatsmechanismus nicht seine volle präventive Wirkung entfalten. Weder die polnische noch die ungarische Regierung sind maßgeblich von ihren autoritären Kursen abgerückt. Eine direkte Konfrontation mit beiden Mitgliedstaaten aufgrund der Missachtung europäischer Werte hat von der Leyen vermieden. Ein direkter Weg zurück zur vollen Durchsetzung rechtsstaatlicher Prinzipien ist aktuell verbaut. Zwischen dem selbst-postulierten Anspruch von der Leyens und ihrem Handeln klafft eine große Lücke, die sich in absehbarer Zeit nicht schließen wird.
Es ist mehr als fraglich, ob Von der Leyen hier in den kommenden Monaten einen Kurswechsel vollziehen wird. Zuletzt drohte der einflussreiche PiS-Parteivorsitzende Jaroslaw Kaczynski damit, von der Leyen für eine mögliche Wiederwahl nicht zu unterstützen, wenn Polen kein Geld aus dem Wiederaufbaufonds erhält. Sollte Von der Leyen für ihre mögliche Kandidatur 2024 auf die Zustimmung der Regierungen aus Warschau und Budapest setzen, macht sie sich erpressbar. Es steht zu befürchten, dass Europäische Grundwerte bei diesem Kalkül weiter unter die Räder geraten – mit fatalen Folgen für die Europäische Demokratie.
Sollte Von der Leyen für ihre mögliche Kandidatur 2024 auf die Zustimmung der Regierungen aus Warschau und Budapest setzen, macht sie sich erpressbar.