Warum wir Grüne gegen Sylvie Goulard gestimmt haben
Sylvie Goulard ist am Donnerstag im Europaparlament abgelehnt worden. Frankreich muss eine neue Kandidatin für das Binnenmarkt-Ressort der EU-Kommission aufstellen. Das Ergebnis der Abstimmung (82 Gegen, 29 Für) hat bei einigen Grünen für Verwunderung und Unverständnis gesorgt: Sylvie Goulard ist eine überzeugte Europäerin, vielleicht wie keine Zweite gerade auch mit uns Deutschen Grünen vernetzt, eine Vorkämpferin für das deutsch-französische Verhältnis und eine kompetente Politikerin, die unter anderen Umständen vielleicht eine gute Besetzung für einen Top-Job an der Spitze Europas gewesen wäre.
Wir Europagrüne haben gegen Sylvie Goulard gestimmt (in der Fraktion ohne Gegenstimme bei 3 Enthaltungen). Auch ich habe sehr mit mir gerungen, mich am Ende aber auch für diesen Schritt ausgesprochen. Revanchegelüste spielten für unsere grüne Positionierung keine Rolle. Bei den ausschlaggebenden Christdemokraten ist das etwas ganz anderes, dazu mehr unten. Für uns Grüne spielten Goulards Ethik-Probleme eine Rolle, waren aber bei weitem nicht die einzigen Gründe.
Es war klar, dass Sylvie Goulard einen schweren Stand im Europaparlament haben würde. Es gibt laufende Ermittlungen der EU-Antibetrugsbehörde OLAF gegen Goulard, weil sie während ihrer Zeit als Abgeordnete einen Mitarbeiter schein-beschäftigt hatte. Die Rückzahlung von 45.000 Euro an die Parlamentsverwaltung kann teilweise als Schuldeingeständnis gesehen werden – hat das OLAF-Verfahren aber bisher nicht beendet. Auch in Frankreich laufen in dem Bereich noch Ermittlungen. Zur Frage warum ihre Regelverstöße in Frankreich genug für einen Rücktritt als Ministerin waren, in Europa aber nun kein Problem mehr sein sollen, kommentierte Sie damit dass die Regeln in Europa eben andere seien.
Darüber hinaus hat Goulard vom US-Think-Tank Berggruen-Institute Nebeneinkünfte in Höhe von 12.000 Euro monatlich erhalten. In Summe beliefen sich die Zahlungen auf mehr als 320.000 Euro – wobei nicht ganz klar ist was die Gegenleistung war. Das ist nicht verboten, entspricht den aktuellen Regeln, wurde aber von vielen Abgeordneten kritisiert. Aus dem einfachen Grund: Bei derart hohen Zahlungen ist nicht mehr klar, wessen Interessen im Parlament vertreten werden – die der Wähler*innen, oder die eines Unternehmens oder Lobbyverbands. In den Anhörungen vor den Fachausschüssen hat Goulard auf die scharfe Kritik gesagt, dass Nebeneinkünfte in jeder Höhe legal sind.
Wir wollen aus der Kritik an den hohen Nebeneinkünften Konsequenzen ziehen. Ich habe einen Änderungsantrag formuliert, Nebeneinkünfte künftig bei 15 Prozent des Abgeordnetengehalts zu deckeln. Diese Regel gilt im US-Kongress. Viele grüne Kollegen und einige Abgeordnete aus anderen Fraktionen unterstützen das bereits.
In der Anhörung gab es von uns Grünen keine Fragen zu Ethikproblemen. Wir haben uns auf die fachlichen Fragen konzentriert. In der Frage über die Abschaffung des Verbrennungsmotors in einigen Mitgliedstaaten bis zum Jahr 2030 hat Goulard den Europäischen Binnenmarkt über ökologische Belange gestellt. Frankreich und Dänemark haben sich verpflichtet, ab 2030 keine Autos mit Verbrennungsmotor mehr zuzulassen. Durch den gemeinsamen Binnenmarkt wird das aber absehbar zu Konflikten mit Anbietern führen, die dennoch weiter Verbrennungsmotoren verkaufen wollen. Goulard deutete an, vor allem EU-Recht gegen Frankreich und Dänemark einsetzen zu wollen, nicht die EU-Verpflichtungen zum Klimaschutz gegen den Verbrennungsmotor. Auch wenn sich Goulard in anderen Fragen sehr offen gezeigt hatte, war dieses Signal an uns Grüne enttäuschend. Denn der versprochene Green New Deal und die damit verbundene Verkehrs- und Energiewende auf europäischer Ebene dürfen nicht daran scheitern, dass wir den freien Warenverkehr im Binnenmarkt prinzipiell über den Kampf gegen die Klimakrise stellen.
Als Kommissarin hätte Sylvie Goulard über ein Super-Portfolio präsidiert. Insgesamt drei Generaldirektionen (Grow, Connect, Rüstung) wären in ihren Zuständigkeitsbereich gefallen. Insbesondere der Aufbau einer eigenen Abteilung für Rüstungsindustrie innerhalb des Binnenmarkt-Portfolios stieß bei einigen Grünen auf Kritik. Im Ausschuss wurde von unserer Seite auch eine Beschneidung des Ressorts ins Gespräch gebracht.
Die bisher genannten Bedenken haben sicherlich in Frankreich in der öffentlichen Debatte noch mal eine deutlich größere Rolle gespielt. Damit war auch der Druck auf unsere französischen Kollegen noch größer, sich hier klar zu positionieren. Auch das hat sich in der Fraktions-Debatte widergespiegelt. Letztendlich war es aber der Wunsch der Fraktion sich bei der Frage auf eine gemeinsame Position zu einigen, was in der deutlichen Abstimmung ja auch gelungen ist.
Wir Grüne wollten nach der Europawahl eine Koalition mit den vier großen pro-europäischen Fraktionen eingehen. Wir haben dazu sehr engagiert verhandelt, wurden aber am Ende aus den Verhandlungen gedrängt und Ursula von der Leyen hat uns sehr klar kommuniziert: Sie wünscht keine Mehrheit mit uns Grünen und hat kein Interesse an einer schriftlichen Vereinbarung. Die Konflikte, die sich jetzt am Fall Goulard offen gezeigt haben (besonders zwischen Konservativen, Sozialdemokraten und Liberalen) gehen auch darauf zurück, dass es keine schriftlichen Vereinbarungen gibt.
Am Donnerstagabend hat Emmanuel Macron erklärt, er habe Ursula von der Leyen nach Garantien aus dem Parlament gefragt. Von der Leyen habe deshalb mit den Fraktionschefs der Christdemokraten (Manfred Weber), Sozialdemokraten (Iratxe García Pérez) und der liberalen Renew-Fraktion (Dacian Cioloș) telefoniert und eine Zusage für Goulard erhalten. Erst dann habe Macron Goulard formal vorgeschlagen. Die Sozialdemokraten haben das per Twitter dementiert, die Christdemokraten ebenso. Wer die Wahrheit sagt, wissen wir nicht. Klar ist: Ein Gentlemen’s Agreement hat nicht genügt, um für komplizierte europäische Politik hier einen tragfähigen Kompromiss festzuhalten. Macron hatte das Europäische Parlament zwar auf dem Plan, er hat es aber nie selbst einbezogen oder Gespräche geführt.
Wir Grüne sind ergebnisoffen in die Anhörungen gegangen. Goulard hat uns aus den oben genannten Gründen dann aber nicht überzeugt. Für ihre Ablehnung waren am Ende die Stimmen von Christ- und Sozialdemokraten ausschlaggebend. Hier mag Verbitterung über Macrons Rolle beim Blockieren des Spitzenkandidatenprinzips und die Degradierung Manfred Webers eine Rolle gespielt haben. Nicht ganz unbedeutend war auch, dass EVP und S&D im Prozess der Kommissarsnominierung bereits Kandidaten verloren hatten: Der Ungar Laszlo Trocsanyi und die Rumänin Rovana Plumb wurden vom Europaparlament wegen Interessenkonflikten abgelehnt.
Wie ernsthaft es den Christdemokraten tatsächlich um die vorgetragenen Bedenken an Goulards Nebeneinkünften ging, werde ich auch an deren Unterstützung für unsere neue Regel zur Deckelung von Nebeneinkünften bewerten.
Die Kommissarskandidaten werden dezentral durch die jeweiligen Fachausschüsse angehört. Verantwortlich für die Befragung und die Entscheidung kurz nach der Anhörung sind die Obleute der Ausschüsse. Eine Abstimmung in der Fraktion gab es einzig und allein zum Fall Goulard – und auch da erst kurz vor der zweiten Anhörung. Ursprünglich geplant war lediglich sich für die Abstimmung im Plenum über die Kommission als Ganzes zu koordinieren. Diese schwache Koordination unter den Ausschuss-Teams bedeutet unterschiedliche Standards an die Kommissare. Wie ethische Fragen im Vergleich zu fachlichen Fragen gewichtet werden, musste jedes Team für sich entscheiden. Durch die insgesamt sieben Fraktionen mit schwacher interner Koordinierung vervielfältigt sich dieser Effekt. Janusz Wojciechowski (von der polnischen PiS) und Josep Borrell (spanischer Sozialdemokrat) erhielten das positive Votum der Ausschüsse obwohl auch sie Ethik-Probleme hatten. Allerdings sind die Verfahren gegen sie abgeschlossen. Die Schadenssummen im Fall von Wojciechowskis Betrug mit Tankrechnungen von 11.000 EUR sind geringer. Borrells Insider-Trading, für das er 2018 30.000 EUR Strafe zahlen musste, war mehr auf wirtschaftliche als auf politische Aufgaben bezogen. Seine 2009 nicht erklärten 300.000 Euro Nebeneinkünfte liegen länger zurück. Bei stärkerer Koordinierung für einheitliche Standards hätte das für Wojciechowski, Borrell und Goulard aber eventuell ein anderes Ergebnis bedeutet.
Auch um Ethik-Probleme schon vor den Fachanhörungen anzugehen, hat der Rechtsausschuss auf Grüne Initiative hin mehr Rechte bekommen. Dieses Mal kamen die neuen Rechte erstmals zur Anwendung. Der Rechtsausschuss prüft die Kandidaten auf Interessenkonflikte anhand ihrer Erklärung finanzieller Interessen. Ohne grünes Licht des Rechtsausschusses durften keine Anhörungen durch die Fachausschüsse beginnen. Aus fast allen Fraktionen war im Rechtsausschuss aber zu hören, dass zu wenig Zeit für ernsthafte Prüfung der Kandidaten und Erklärungen blieb, die Standards klarer sein sollten und mehr Informationen als nur die Interessenerklärungen einbezogen werden müssen.
Deshalb fordern wir Grünen eine unabhängige Ethik-Behörde für Parlament, Kommission und andere EU-Institutionen. Mit Ethik-Profis besetzt, sollte sie unabhängig von den Interessen politischer Fraktionen die Kandidaten auf Interessenkonflikte kontrollieren. Die Anhörungen des Parlaments könnten sich so stärker auf fachliche Fragen konzentrieren.