Daniel Freund

4. November 2024 Demokratie

Das Wichtigste zu den Anhörungen der EU-Kommissars-Anwärter*innen

Für Europas Top-Jobs nur die hellsten Köpfe? Um diesem Anspruch gerecht zu werden, startet ab heute der Anhörungsprozess der 26 Kommissarsanwärter*innen im Europaparlament. Die Kandidat*innen werden dafür in den 20 Fachausschüssen des Europaparlaments befragt. Ziel ist es zum einen festzustellen, ob der/die Anwärter*in fachlich geeignet ist, den Job des/der EU-Kommissarin auszuführen. Zum anderen wird geprüft, ob der Ressortzuschnitt mit dem Profil des/der Bewerber*in zusammenpasst.

Dass es sich hierbei keineswegs um eine Routineverfahren handelt, sondern um einen hochpolitisierten Prozess, haben wir bereits bei der Integritätsprüfung der EU-Kommissarsanwärter*innen beobachten können. Wie läuft das Anhörungsprozedere ab, bei welchen Befragungen könnte es brenzlig werden und was sind unsere Grünen Prioritäten? Das Wichtigste im Überblick.

Frage, Antwort, Zweidrittelmehrheit: So läuft die Anhörung – im Idealfall

Drei Stunden Ausschusssitzung. 44 Fragen. 86 Minuten Zeit zum Antworten. Die größte Fraktion – also die EVP – bekommt die meiste Zeit, um ihre Fragen an die Anwärter*innen zu stellen. Es ist absehbar, dass sich die Härte der Fragen nach Parteizugehörigkeit richten wird. Nach der Befragung kommen die Koordinator*innen der jeweiligen Fraktionen zusammen und entscheiden, ob der/die Bewerber*in “bestanden” hat. Gibt es hierfür in dieser Runde eine Zweidrittelmehrheit, dann ist das Verfahren abgeschlossen. Ist das nicht der Fall, können an den Kandidaten neue Fragen gerichtet werden. Der Ausschuss kann auch eine Neuzuschneidung des Ressorts empfehlen. Am Ende braucht es für die Zustimmung eine einfache Mehrheit aller Ausschussmitglieder. Interessant wird: In einer Vielzahl der Ausschüsse braucht es für eine Zweidrittelmehrheit auch die Stimmen von Rechtstaußen. Hier wird sich zeigen, welche Kandidat*innen auch von Rechtsaußen getragen werden – und wo es eine Extrarunde braucht. Werden einzelne Kandidaten abgelehnt, braucht es Nachnominierungen aus den Mitgliedstaaten. Wurden am Ende 26 Kandidat*innen von den zuständigen Ausschüssen bestätigt, braucht die gesamte neue EU-Kommission noch die Bestätigung des Europaparlaments (einfache Mehrheit).

Melonis Mann als Vize, Orbans Mann für Tierschutz? – die Wackelkandidaten

Bei welchen Anhörungen könnte es brenzlig werden? Es dürfte sich vor allem lohnen bei der Anhörung des Ungarn Oliver Varhelyi genauer hinzuschauen – eben so wie beim Italiener Raffaele Fitto. Varhelyi wurde von der Orban-Regierung nominiert und soll künftig für die Bereiche Tierschutz und Gesundheit zuständig sein. Allein das ist schon eine Degradierung, nachdem er bisher für die EU-Erweiterungspolitik zuständig war. An der Personalie Varhelyi wird sich zeigen, ob das Europaparlament ein erstes Ausrufezeichen setzt und Orbans Kandidaten einfach ablehnt – oder ob es den Rechtsaußen-Fraktionen gelingt, eine Mehrheit zu bauen.

Ähnlich wird es bei der Personalie Fitto sein, wenngleich auch deutlich brisanter. Raffaele Fitto ist die Nominierung von Italiens Rechtsaußen-Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. Ursula von der Leyen würde ihn gern trotzdem zu ihrem Vizepräsidenten machen. Damit das klappt, braucht er in der Ausschuss-Anhörung eigentlich die Stimmen von Sozialdemokraten und Liberalen – die wollten hier allerdings klare Kante gegen den rechtsextremen Kandidaten zeigen. Was bleibt, wäre dann einzig eine Mehrheit von Konservativen und Rechtsaußen-Parteien (inklusive der AfD im REGI-Ausschuss). Ist die EVP in diesem Fall wirklich bereit, die Brandmauer einzureißen, um einen italienischen Rechtsaußen-Politiker ins Vize-Präsidenten-Amt zu hieven?

Machts die EVP mit Rechts oder mit Links?

Die Kommissarsanhörungen werden ein erster deutlicher Litmustest, welche Mehrheiten in diesem Europäischen Parlament in den kommenden Jahren bestimmend sein werden. Setzt die EVP auf eine pro-europäische Mehrheit mit Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen – oder paktiert sie mit einer, zwei oder gar allen Rechtsaußen-Fraktionen, um ihre insgesamt 14(!) Kommissars-Kandidat*innen durchzubekommen?

Letztendlich geht es aber in den Kommissarsanhörungen auch um mehr als die Mehrheitsverhältnisse innerhalb des Parlaments. Dieser Prozess ist immer auch eine Neujustierung der Machtverhältnisse unter den EU-Institutionen. Vor fünf Jahren hatte sich das Parlament – in erster Linie auf Grünen Druck hin – dazu entschieden, drei Kandidat*innen mangels Eignung zurückzuweisen. EU-Kommission und Mitgliedstaaten mussten eine Extra-Runde drehen und das Europaparlament ging deutlich selbstbewusster und gestärkt aus dem Anhörungsprozess hervor. Sollte das Parlament in diesem Jahr auf ein Spiel mit den Muskeln verzichten und sich darauf beschränken, Ursula von der Leyens Personal-Tableau abzunicken, dann hätte dies mittelfristig Auswirkungen auf die Machtposition des Europaparlaments in den kommenden Jahren. 

Übersicht aller hearings: https://hearings.elections.europa.eu/documents/timetable/programme_hearings_en.pdf

Sollte das Parlament in diesem Jahr auf ein Spiel mit den Muskeln verzichten und sich darauf beschränken, Ursula von der Leyens Personal-Tableau abzunicken, dann hätte dies mittelfristig Auswirkungen auf die Machtposition des Europaparlaments in den kommenden Jahren.

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