Warnbriefe an Polen und Ungarn: Sanktionen verzögern sich um Monate - Kommission weiß wie kaputt Systeme sind
Am vergangenen Freitag (19.11.) hat die EU-Kommission Rechtsstaatsbriefe an Polen und Ungarn geschickt. Bei den Briefen handelt es sich nicht um die lang erwarteten “offiziellen Notifizierungen”, die den Rechtsstaatsmechanismus gegen beide Länder auslösen würden, sondern um einen informellen Fragenkatalog. Die Regierungen sollen demnach bis zum 17.01.2022 zu Rechtsstaatsmängeln Stellung nehmen. Beide Briefe geben einen tiefen Einblick in die Dimension der Rechtsstaatsverstöße in beiden Ländern.
Die EU-Kommission nimmt zwei Problemfelder verstärkt in den Fokus: Die Unabhängigkeit der Justiz und die Korruptionsbekämpfung.
Wie unabhängig ist die Justiz in Polen und Ungarn?
Es ist wenig überraschend, dass sich die Fragen der EU-Kommission im Fall von Polen vor allem um die umstrittene Justizreform drehen. So möchte die Kommission etwa wissen, wie Polen angesichts der Justizreformen der letzten Jahre sicherstellt, dass Richter*innen im Land noch unabhängig ihrer Arbeit nachgehen können. Außerdem wird nach einer Rechtfertigung für die massenhafte Entlassung von Staatsanwält*innen aus ihren leitenden Funktionen gefragt. Aber auch im ungarischen Fall besteht anscheinend Klärungsbedarf, beispielsweise im Bezug auf die zentralisierte Verwaltung der Gerichte und die Möglichkeiten für Disziplinarmaßnahmen gegen Richter*innen. Das Interesse am Justizsystem ist naheliegend – sind unabhängige Gerichte doch essentiell für die Durchsetzung von EU-Recht und zugleich auch für die Kontrolle ausgezahlter EU-Gelder.
Die Risiken für das EU-Budget: Korruption
Für das Auslösen des Rechtsstaatsmechanismus ist es zentral, dass von den Rechtsstaatsverstößen eine Gefahr für das EU-Budget ausgeht. Es ist daher naheliegend, dass sie sich in den Fragen umfassend dem Komplex der Korruption widmen. Folgerichtig fragt die Kommission im polnischen Fall auch danach, welche Garantien es gäbe, die “die Staatsanwaltschaft vor unzulässiger Einflussnahme durch den Justizminister im Bezug auf Untersuchung und Strafverfolgung bei Betrug und Korruption” schützen. In Ungarn – wo Korruption bekannterweise weiter verbreitet und institutionalisiert ist – wird die Kommission direkter und fragt nach “zehn Personen oder Gruppierungen, die den größten Anteil der Milliardenzahlungen an Agrarsubventionen an Ungarn erhalten”. Es ist offensichtlich, dass es hier ganz konkret um das Machtnetzwerk von Premier Viktor Orban geht.
Welche Rolle spielt eigentlich Migration?
Vor allem von der ungarischen Regierung wird der Narrativ gepflegt, der Rechtstaatsstreit mit Brüssel diene der EU lediglich dazu, vermeintliche Migrationspolitiken durchzudrücken. Hier muss man eindeutig feststellen: Das ist eine Nebelkerze! In beiden Briefen fällt das Wort “Migration” nicht ein einziges Mal. Der Komplex spielt in der Auseinandersetzung um Rechtsstaatlichkeit keine Rolle!
Können Warschau und Budapest mit den “richtigen” Antworten den Rechtsstaatsmechanismus noch abwenden?
Äußerst unwahrscheinlich. Beide Briefe offenbaren, wie umfassend das Wissen der EU-Kommission zu den Rechtsstaatsmängeln in Polen und in Ungarn ist. Angesprochen werden systemische Probleme, die sich nicht verleugnen lassen. Um diese zu beheben bräuchte es vollumfängliche Reformen der Justizsysteme und der Verfahren für die Verwaltung und Vergabe öffentlicher Gelder. Auch der politische Wille gegenzusteuern scheint weder in Ungarn, noch in Polen vorhanden. Die offizielle und gründliche Feststellung von zum Teil gravierenden Mängeln in der Rechtsstaatlichkeit durch die EU-Kommission sollte es Ursula von der Leyen deshalb eigentlich unmöglich machen, eine Auszahlung der Wiederaufbaufonds noch in diesem Jahr zu genehmigen.