Daniel Freund

30. Juni 2021 Antikorruption

Laschet und Scholz verstehen Verteidigung von Europas Rechtsstaat nicht

Während einer Diskussion* der drei Kanzlerkandidat*innen von Grünen, CDU und SPD warfen Laschet und Scholz Annalena Baerbock vor, ihre Forderung nach finanziellen Sanktionen gegen Ungarn seitens der EU seien rechtswidrig. Zunächst müsse das Urteil des Europäischen Gerichtshofs abgewartet werden. Weitere CDU/CSU-Politiker*innen verwiesen seitdem auf ein nötiges Abwarten des Gerichtsurteils und begrenzte Möglichkeiten zur Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit gegen Viktor Orbans Attacken, zuletzt auch Angela Merkel vor der deutsch-französischen Parlamentarierversammlung.

 

Daniel Freund, Verhandler der Grünen/EFA-Fraktion für den EU-Rechtsstaatsmechanismus, kommentiert:

“Laschet und Scholz zeigen sich gefährlich unwissend wie Europa den Rechtsstaat verteidigen kann. Sie stehen mit ihren Positionen auch im krassen Gegensatz zu ihren jeweiligen Europafraktionen, die wie Annalena Baerbock die sofortige Anwendung des Rechtsstaatsmechanismus fordern. Seit dem 1.1.2021 können damit Viktor Orban die EU-Gelder gestrichen werden. Ob aus Unwissenheit oder Widerwillen, Laschet und Scholz verzögern die Verteidigung des europäischen Rechtsstaats und ermöglichen Viktor Orban freie Hand beim Missbrauch europäischer Steuergelder und dem Abbau des Rechtsstaats. Die Bundesregierung und die Kommission dürfen nicht erlauben, dass noch mehr Gelder der EU-Steuerzahler missbraucht werden.”

 

* Die Diskussion auf Einladung der ARD und der Münchener Sicherheitskonferenz findet sich hier: https://www.youtube.com/watch?v=bc3mUdKDxi0&t=2317s Der Schlüsselmoment hier: https://twitter.com/daniel_freund/status/1410186930818629636

 

Video von Angela Merkel zum anti-LGBTIQ Gesetz in Ungarn: https://twitter.com/sven_giegold/status/1409803822017519618

 

Europaparlament und Rechtsexperten gegen Verzögerung des EU-Rechtsstaatsmechanismus

Zum Abschluss der Verhandlungen im vergangenen Jahr hatte die Kommission auf Druck von Ungarn, Polen und der deutschen Ratspräsidentschaft einem Hinterzimmerdeal zugestimmt. Damit Ungarn und Polen der Schaffung des Mechanismus zustimmen, erklärte die Kommission, den Mechanismus nicht auslösen zu wollen, solange eine Klage gegen dessen Rechtmäßigkeit vor dem EuGH anhängig ist. Dies würde die Anwendung des Mechanismus um bis zu zwei Jahre hinausziehen.

 

Aus rechtlicher Sicht kann die Anwendung des Mechanismus nicht durch eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshofs (EuGH) aufgehalten werden. Erst wenn der EuGH den Mechanismus in einem Urteil für nichtig erklärt, wäre es der Kommission untersagt, ihn anzuwenden.

 

Das Europaparlament hatte am 10. Juni die EU-Kommission aufgefordert, die sogenannte Konditionalitätsverordnung sofort anzuwenden, auf grünes Drängen und mit den Stimmen von Christdemokraten und Sozialdemokraten.

 

Die Entschließung des Europaparlaments vom 10. Juni dazu: https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0287_DE.html

 

  1. bekräftigt seinen Standpunkt zu der Verordnung über den an die Rechtstaatlichkeit geknüpften Konditionalitätsmechanismus, die am 1. Januar 2021 in Kraft getreten ist …

 

  1. weist darauf hin, dass nach Artikel 5 der Verordnung über den an die Rechtstaatlichkeit geknüpften Konditionalitätsmechanismus „[d]ie Kommission überprüft, ob das anwendbare Recht eingehalten wurde, und […] erforderlichenfalls alle geeigneten Maßnahmen zum Schutz des Haushalts der Union [ergreift]“; ist der Auffassung, dass die Situation in Bezug auf die Achtung des Rechtsstaatsprinzips in einigen Mitgliedstaaten eine sofortige Anwendung der Verordnung über den an die Rechtstaatlichkeit geknüpften Konditionalitätsmechanismus rechtfertigt; …

 

  1. bedauert, dass die Kommission nicht bis zum 1. Juni 2021 auf die Forderungen des Parlaments reagiert und das in der Verordnung über den an die Rechtstaatlichkeit geknüpften Konditionalitätsmechanismus festgelegte Verfahren in den offensichtlichsten Fällen von Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit in der EU nicht aktiviert hat; beauftragt seinen Präsidenten, die Kommission innerhalb von zwei Wochen nach Annahme dieser Entschließung auf der Grundlage von Artikel 265 AEUV aufzufordern, ihren Verpflichtungen gemäß dieser Verordnung nachzukommen; erklärt, dass das Parlament, um vorbereitet zu sein, in der Zwischenzeit unverzüglich die notwendigen Vorbereitungen für mögliche Gerichtsverfahren gemäß Artikel 265 AEUV gegen die Kommission einleiten muss; …

 

Eine (nicht öffentliche, uns vorliegende) Einschätzung des Wissenschaftlichen Dienstes des Europaparlaments lautet im Kernsatz:

 

The Treaties do not foresee the possibility for the Commission to suspend, on its own motion, the application of a legislative act, such as a regulation, or any part of it.

 

Der “Verfassungsblog” hat dazu in mehreren Artikeln Stellung genommen, u.a. in diesem: https://verfassungsblog.de/compromising-the-rule-of-law-while-compromising-on-the-rule-of-law/

 

In short, and in violation of the Treaties, the European Council is instructing the Guardian of the Treaties not to enforce the Regulation when it comes into effect until the Regulation has run the gauntlet of an ECJ judgment and a protracted consultation procedure. Delays appease the rogue states.

 

Wie der EU-Rechtsstaatsmechanismus funktioniert

Konditionalitätsmechanismus / EU-Rechtsstaatsmechanismus: Die Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates “über den Schutz des Haushalts der Union im Falle von generellen Mängeln in Bezug auf das Rechtsstaatsprinzip in den Mitgliedstaaten” basiert auf dem Vertragsartikel zur Umsetzung des EU-Haushalts. Wenn in EU-Mitgliedstaaten EU-Grundwerte systematisch verletzt werden und dadurch Gefahren für die ordentliche Umsetzung des EU-Haushalts entstehen, kann die EU-Kommission finanzielle Sanktionen vorschlagen. Die Sanktionen müssen dann vom Rat der Mitgliedstaaten mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden. Diese Hürde ist allerdings niedriger als im Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags. Im Artikel-7-Verfahren müssen Sanktionen durch alle Mitgliedstaaten außer dem beschuldigten beschlossen werden. Die PiS-Regierung in Polen und Viktor Orban in Ungarn haben öffentlich erklärt in diesem Fall immer gegen Sanktionen für den jeweils anderen zu stimmen.

 

Kommissionsvorschlag: https://www.europarl.europa.eu/RegData/docs_autres_institutions/commission_europeenne/com/2018/0324/COM_COM(2018)0324_DE.pdf

 

Parlamensbeschluss: https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-8-2019-0038_DE.html

 

weitere Instrumente für finanzielle EU-Sanktionen zusätzlich zum Rechtsstaatsmechanismus

Zusätzlich zum Konditionalitätsmechanismus existieren weitere Wege, in denen die EU-Kommission finanzielle Sanktionen verhängen könnte

 

Vertragsverletzungsverfahren: Wenn Mitgliedstaaten ihre Pflichten nach geltenden EU-Verträgen oder EU-Gesetzen verletzen, kann die EU-Kommission einen Mitgliedstaat vor dem Europäischen Gerichtshof verklagen. Wenn das EU-Gericht einen Mitgliedstaat wegen Rechtsverletzung verurteilt, dieser sein Handeln aber nicht korrigiert, kann die EU-Kommission beim Gericht Strafzahlungen beantragen. Ungarn setzt aktuell drei Urteile nicht um, die für solche finanziellen Sanktionen Anlass bieten würden. Bisher hat die EU-Kommission beim EU-Gericht solche Finanzsanktionen gegen Orbans Regierung aber nicht beantragt.

 

Dachverordnung für Fonds mit geteilter Mittelverwaltung: Diese Verordnung setzt für die Auszahlung von EU-Fonds an Mitgliedstaaten die Bedingung, dass nationale Kontrollsysteme die ordnungsgemäße Mittelverwendung sicherstellen. Wenn Gerichte nicht mehr unabhängig sind, die Staatsanwaltschaft systematisch ihre Arbeit nicht macht, ist dies aber nicht mehr der Fall. Die Verordnung erlaubt der EU-Kommission bei systematischen Problemen die Auszahlung von EU-Geldern einzufrieren. Dies nutzt die EU-Kommission in Ungarn aber nicht.

 

Statement der Kommission zur Einigung auf die Verordnung: https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/IP_20_2255